Entfaltung – Dr. Dirk Tölke zur Jahresgabe „light fragments“, 2014 Auswahl von 200 Zeichnungen
Der Jahreswechsel steckt voll Schönheit und stiller Momente. Die Farbigkeit und welke Pracht des herbstlichen Verfalls bringt ungeahnten Reichtum und sichtbaren Wechsel. Die reduzierte Lebensenergie des Winters hungert dem Frühling entgegen. Sabine Jacobs findet für solche Übergangsphänomene der Natur eine künstlerische Gestalt, die vielfältige Formen zulässt. Eine davon halten Sie in Händen.
Eine spontane Zeichnung deren Ursprung die Künstlerin folgend beschreibt:
„Eine zart blasse Blüte, die ihre ursprüngliche Kraft verloren hat und vom Stängel gelöst, in freiem Fall einen neuen Lebensabschnitt beginnt.“ – „Die Zeichnung ein erster handschriftlicher Ausdruck von zerbrechlicher Kraft“ –
Die Natur in dieser Weise grundsätzlich betrachtet, bekommt eine spirituelle Note, die die Künstlerin mit Blick auf das Kleine sichtbar macht. Im Zyklus der Natur schließen sich dem Wachstum und dem Wuchern bald Blüte, Knospe und Samen an. Die Formwelten sind den Naturkräften ausgesetzt. Sonne, Regen, Wind und Lebewesen haben daran Anteil. Das bestimmt Wuchsrichtung, Größe und Farbigkeit. Es folgen Verteilungsmuster, Zerstreuung und Verwehen. Im Vertrocknen rollen sich Blätter ein, der Wind zerzaust die Konturen, Fraßspuren durchlöchern die Flächen, Konstruktionen beginnen unter Druck zu brechen und sich zu verschieben. Dieses Zerstörungswerk bietet anderen Material für den Winterschutz und stellt den Humus des folgenden Zyklus bereit. – Diese Situation einer Reife auf der Kippe stellt die Künstlerin dar. Jeder einzelne Sterbevorgang, jeder einzelne Verfall hat seinen eigenen Reiz, der aus dem reichen und spezifischen Leben vorher erwächst. Er erwächst noch immer, denn die individuelle Schönheit des Fragments begleitet den Neubeginn mit ihrer lebendigen Würde, mit Charakter, der sich darin als Reifeleistung noch einmal entfaltet.
In der plastischen Kunst hat der Torso sich als Auslöser für ganz eigene Assoziationen zum Werk entwickelt, die träumerisch, sehnsuchtsvoll und individuell die Betrachter über Vervollständigungen spekulieren, die verlorene Größe betrauern oder sie zum Symbol für Hybris und Vergänglichkeit werden lassen. Man spiegelt sich im Werk, indem in den Assoziationen eigene Vorstellungen, Hoffnungen und Ängste wachwerden. Der eigene Charakter tritt zu Tage. Das tut er auch bei den wesenhaften Zeichnungen von Sabine Jacobs. Ohne eindeutig Lebewesen zu sein, gemahnen sie in ihrer Form an etwas zwischen Fauna und Flora. In sofern sind sie eindeutig Natur, aber in Auflösung begriffen – sie ver-wesen.
Blütenblätter sind hier Formkeim für die mit der Hand denkende Künstlerin, die zunächst mit leichtem Bleistiftstrich die Fläche strukturiert, dann mit grün-blauer Öllasur Flächigkeit frei diesem konstruktivem Gerüst hinzugesellt und schließlich mit kräftigerem Graphitstrich von gebrochener Lineatur Umrisse andeutet, die der in der Farbe angelegten Gebärde eine mimische Charakteristik und Lebendigkeit geben. Man hat Einblick in eine Zwischenwelt, eine künstlerische Parallele zum Naturprozess, die formal über die Fragen nachdenkt: Wann ist es eigentlich Verfall? Wann ist es noch Formwelt? Wann ist die Schöpfung erschöpft? Wann wird es Chaos?
Die Konturen dieser Verfallscharakterstudien sind gelockert. Sie halten sich nicht an die Farbflächen. Sie wachsen über ihre Grenzen hinaus. Sie bilden eine offene Zone, ein Stenogramm des Randes, segmentiert in handschriftlichen Schlenkern, Winkelzügen, Kehrtwenden, ergänzenden Stoppeln und aufgelösten Strukturen. Sie binden körnig entgleitende Elemente ein, besitzen Eigenständigkeit und zeigen strebende Formen, die noch wachsen wollen.
Dynamik und Balance bestimmen die durch Farbe und Lineament zart bleibenden Gebilde. Sie wirken teils theatralisch, teils humorvoll karikiert, teils ballettös wie auf Zehenspitzen ersterbend, teils wie eine grazile Handbewegung, teils von stolzer Selbstüberschätzung gestreift, teils selbstbewusst aufbegehrend, teils ruppig bewegt. Mal wirken sie feminin, mal maskulin – in keinem Falle uniform und erstarrt, sondern schwebend und gebändigt. Diese empfindsamen Zeichnungen sind trotz instabiler Formen als erfundenes Gefüge ausgeglichen und bildstabil.
Sabine Jacobs gestaltet diesen Auflösungsprozess aus dem Anfangsinput, sie jongliert mit Flächen, sie findet zerzauste Formen, ausgedünnte Linien und aufgelöste Grenzen, die diesen Zerfallsbildungen mit heiterer Energie und spiritueller Entmaterialisierung das Chaotische und Beängstigende nehmen. Die frei und gut in die Fläche komponierten Fragmente ringen dem Zufall und dem Zerfall eine prozesshaft bleibende Lebendigkeit und Charakterstärke ab, die in ihrer individuellen Vielfalt vom Reichtum der künstlerischen Phantasie und der Natur künden.
Die Assoziationen werden in Gang gebracht, die Ideen kristallisieren sich heraus, die Kontur und die expansive Auflösung bleiben offen. Dem Denken ist keine Richtung vorgegeben und keine Grenze gesetzt. Es geht nicht um Wiedererkennen oder Dokumentation von Natur, sondern um neu Sehen und Weiterdenken, um Erfindung. Diesen Assoziationsspielraum deuten die Blätter an, diese Freiheit geben sie zurück. Zeitgenössisch und archaisch in der Anmutung, muten sie dem Betrachter etwas Positives zu: Entgrenzung ohne Schutzhülle, aber auch ohne Angst.
Fragmente natürlichen Ursprungs, die in einem positiven Bestreben nach Neuordnung eine Zukunft zeigen, ohne die Wurzeln zu verleugnen. (Jacobs)“
Dirk Tölke, 2014